“Hoffnung ist lebenslang berechtigt!”
Woher soll man neue Kräfte schöpfen, wenn es scheinbar keine Perspektive mehr gibt? Gerade angesichts einer palliativen Tumorsituation leistet die Psychoonkologie wertvolle Hilfe, da Betroffene in jedem Krebsstadium Kraftquellen aktivieren und Zuversicht entwickeln können – zentrale Voraussetzungen für die bestmögliche Lebensqualität in dieser Zeit. Der Psychoonkologe Josef Ulrich erläutert, dass Hoffnung lebenslang berechtigt ist.
Herr Ulrich, bei Ihrer Arbeit geht es um die besonderen Bedürfnisse von Menschen, für die nicht mehr die Heilung im Vordergrund steht – oder doch?
Meine Erfahrung der letzten 35 Jahre hat mich gelehrt, dass Hoffnung berechtigt ist, solange ein Mensch atmet. Ich durfte in der onkologischen Palliativstation erstaunliche Krankheitsverläufe beobachten bei Menschen, die aus medizinischer Sicht keine Heilungsoption hatten und trotzdem Heilung erfahren haben.
Den palliativen Begriff nur als „medizinisch nicht heilbar“ zu definieren, ist deshalb aus meiner Sicht zu eng gedacht, denn wenn die Krankheit im Vordergrund steht, werden die Potenziale des Menschen einfach zu wenig berücksichtigt. Deshalb geht es mir in erster Linie um Salutogenese, also darum, die Selbstheilungspotenziale des Menschen zu aktivieren, die lebenslang existieren. Es ist eine Form der Wertschätzung anzuerkennen, dass das Leben diese Potenziale beinhaltet.
“Jeder Krankheitsverlauf ist individuell und wird von vielen Faktoren beeinflusst, völlig unabhängig von der Wahrscheinlichkeit.”
Josef Ulrich, Psychoonkologe
Inwiefern können Ihrer Meinung nach Krebsbetroffene ihren Krankheitsverlauf beeinflussen?
Schon als Kunsttherapeut in der Klinik Öschelbronn erkannte ich: Allein durch das Entfalten seiner Kreativität im künstlerischen Prozess nimmt ein Mensch Einfluss auf sein Selbstbild bzw. seinen Selbstwert und damit auf den Therapieverlauf. Basierend auf der grundsätzlichen Verbundenheit des Menschen mit allen Dimensionen des Lebens beeinflusst die Art, wie er mit sich, seiner Umwelt und seiner inneren Spiritualität umgeht, auch die Aktivierung seiner (Heil-)kräfte.
Darin liegt kein Widerspruch zum Sterben, denn je mehr es gelingt, den Tod ins Leben zu integrieren, desto mehr Energie haben wir für die Lebensprozesse.
Wie können Sie bei den Betroffenen eine veränderte Haltung oder Sichtweise aktivieren?
Zuversicht ist nicht einfach abrufbar – sie erfordert Bewusstseinsarbeit, damit man ein „Sowohl-als-Auch“ willkommen heißt: vorbereitet sein auf den Tod, aber gleichzeitig die Bereitschaft, Freude und Sinnhaftigkeit fürs Leben neu zu entwickeln. Ich bin sozusagen ein Katalysator für die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und für eine neue Sichtweise: Ich weiß nicht wie lange ich lebe, aber ich weiß, wie ich jetzt mit dem Leben verbunden bin und meinen Alltag gestalte. Was ich glaube und wie ich handle, hat Einfluss.
Können Sie ein Beispiel Ihrer Gesprächsinhalte nennen?
Ein wichtiges Werkzeug ist der Perspektivwechsel von „was macht dich krank“ zu „was macht dich gesund“: Ich frage z. B.: Dein Tumor wiegt 20 g, was ist mit den restlichen 70 kg? – Antwort: Das ist Gesundheit. Oder: wie oft hat sich dein Körper reorganisiert im Verlauf deiner z. B. 70 Lebensjahre? – Antwort: Milliardenfach, jedes Virus, jede Verletzung hat er verarbeitet, und diese grundsätzliche Fähigkeit des Körpers existiert noch immer.
Neben der Psychoonkologie umfasst die integrative Onkologie weitere Maßnahmen. Konnten Sie gute Kombinationen oder Synergien beobachten?
Betroffene sollen verstehen, dass sie von zentraler Bedeutung für den Krankheitsverlauf sind. Durch Gespräche und Fragen unterstütze ich ihre aktive Reflexion mit der Umwelt und ihre daraus folgende Eigenreflexion. So erkennen sie, was für sie notwendig ist, um es in ihr Leben hineinzubringen, und übernehmen erfolgreich die Verantwortung für ihr Leben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade hier eine Misteltherapie die Selbstheilungskräfte im Körper unterstützen kann und auch seelisch-geistig zentriert, sodass der Mensch die Energie und Kraft findet, seinen Weg zu gehen.
Was ist Ihr Anliegen an Ärztinnen und Ärzte für den Umgang mit palliativen Tumorpatient:innen?
Sind die Grenzen des medizinisch Machbaren erreicht, müssen der Arzt oder die Ärztin sagen: „Wir können dich nicht heilen mit dem, was wir bisher wissen.“ In diesem Zusammenhang empfinden es die meisten Mediziner unangebracht, Worte wie „Hoffnung“ auszusprechen.
Doch für Betroffene ist es von größter Bedeutung, dass ihn seine Ärztin oder sein Arzt nicht aufgibt. Dabei dürfen sich die Hausärztin oder der Hausarzt ihrer Verantwortung als zentrale Ansprechpersonen eines multimodalen Teams bewusst sein und die Patientenkommunikation entsprechend einfühlsam gestalten. Dazu gehört ein offenes Gespräch ohne Versprechungen (z. B. „Es kann sein, dass ihr Leben bald zu Ende geht, aber auch Stillstand oder sogar Besserung sind nicht ausgeschlossen. Wir arbeiten miteinander an einem Ziel und es macht Sinn zu schauen, wie weit wir kommen“). Dazu gehört außerdem das unvoreingenommene Anbieten geprüfter komplementärer Möglichkeiten und Maßnahmen. Betroffenen wird so vermittelt, dass sie nicht „austherapiert“ sind.
Warum sollen Allgemeinmediziner eine psychoonkologische Behandlung empfehlen?
Es geht darum, einem Menschen angesichts der Diagnose einer lebensbegrenzenden Krankheit einen Ort in seinem Inneren zu zeigen, wo er Hoffnung auf Heilung, Liebe zum Leben und den Glauben an eine sinnhafte Entwicklung aufrechterhalten kann. Das gelingt durch Gespräche und Fragen, was im zeitlichen und finanziellen Rahmen einer Hausarztpraxis normalerweise nicht möglich ist. Die psychoonkologische Unterstützung verschafft Betroffenen ebenso wie Angehörigen oft große Erleichterung. Psychologische Hilfe sollten übrigens auch Ärztinnen und Ärzte in Anspruch nehmen, wenn Belastungsgrenzen erreicht sind.
Vielen Dank, Herr Ulrich, für das Gespräch!